Desto mehr Konzerte und Festivals ich jedoch besuchte, desto mehr Interviews ich führte, desto öfter ich bei irgendwelchen Dances und Soundclashs feierte, desto mehr fühlte ich mich allerdings auch dort irgendwie fremd. Von Jahr zu Jahr erschien mir alles kommerzialisierter, massentauglicher, oberflächlicher, sinnloser. Ich weiss nicht recht, wie ich es beschreiben soll, aber obwohl Reggae zu dieser Zeit sehr wichtig für mich war, in einer gewissen Weise meine Lebensauffassung wiederspiegelte und ich auch aktiv in der Reggaeszene engagiert war, so sah ich mich selbst doch nie als ein Teil eben dieser Szene. Ich glaube, ich finde eh nichts schlimmer, als die Inkarnation eines Klischees zu sein und wenn man dann am Fühlinger See von 30.000 Dreadlocks umrundet ist, die alle Haile Selassie I Anhänger an ihre kratzigen Jutesack-Hemden geknüpft haben und mit viel zu roten Augen an viel zu großen Joints rauchen, dann kommt man sich manchmal vor, genau das zu sein. Es wird einem praktisch anhand all der anderen „Rastas“ bewusst, was eigentlich mit einem selber geht. Die meisten entsprechen tatsächlich diesem Stereotyp des kiffenden, seine Hand zum Peacezeichen formenden Reggaefans, der das ganze dreckig-schlechte System um ihn herum verdammt und sich dann doch Sonntag Abend bequem vom Papa abholen lässt, der von Consciousness, Righteousness und Pureness redet, aber gleichzeitig einen Mann als Messias huldigt, der sich während einer der größten Hungersnöte der Geschichte lieber einen komplett mit Elfenbein ausgestatteten VW bestellt und seine Löwen verwöhnt, als sich um sein Volk zu kümmern. So wollte ich nie sein. Das schreckte mich ab und nervte mich.
Ich begann, nach meiner eigenen Philosophy zu leben. Immer öfter wurden mir all die Dinge bewusst, die sonst nur ein Aussenstehender so wahrnehmen würde. Wie unglaublich verbreitet gewaltverherrlichende Homophobie in dieser an Kultur interessierten, eigentlich doch friedlichen und toleranten Szene ist, ist unglaublich. Das irgendwelche durchgeknallten jamaikanischen Badmen ihr Ego aufpolieren müssen um auch ja 110% hetero zu wirken, ist die eine Sache. Das wir, das deutsche/westliche, aufgeklärte und erwachsene Publikum solche Stellungnahmen oder Aufrufe durchgehen lassen oder sie teilweise sogar bekräftigen, ist eine ganz andere. Ich persönlich –im Gegensatz zu einem Teil unserer Redaktion- finde es daher auch völlig in Ordnung, wenn sich homosexuelle Interessengruppen dagegen wehren und die Auftritte oder Touren einzelner Künstler zu verhindern suchen. Ob nun jemand „Verbrennt die Juden“, „Verbennt die Neger“ oder „Verbrennt die Schwulen“ sagt, macht doch keinen Unterschied. Diese Leute gehören nicht nur in ihren Auftritten eingeschränkt, sondern bestraft. Und wenn jetzt wieder alle sagen, dass „bun dem“ oder „fiyah pon dem“ eine symbolische oder metaphorische Bedeutung haben und nicht wörtlich zu nehmen sind, dann kann ich nur entgegnen, dass es beispielsweise in Jamaica sehr wohl eine Vielzahl an Vorfällen gibt, wo eben diese Symbolik dann doch recht real geworden ist. Brian Williamson wird’s bestätigen können.
Ein weiteres Problem der Reggaeszene ist dieses „wir sind bessere Menschen“-Feeling, was irgendwie von vielen Leuten ausgestrahlt wird. Natürlich sind Reggaefans im Schnitt mit Sicherheit umweltbewusster, offener gegenüber Ausländern oder religiösen/ethnischen Minderheiten, vielleicht sogar etwas hilfsbewusster und sozial engagierter. Dennoch denken auch wir alle nur an uns, wenn der Spfliff die Runde macht und noch mindestens 3 Leute vor uns dran sind, dennoch diskriminieren auch wir im großen Stil (siehe oben), dennoch gibt’s auch beim Reggaefestival Dosenbier, Plastikverpackungen und Fertigessen. Jeder Schritt, der in Richtung „bessere Welt“ gemacht wird, ist lobenswert und zu unterstützen. Aber Scheinheiligkeit und Selbstverliebtheit haben noch niemanden auf dem Weg dorthin geholfen.
Ich selbst machte mich 2005 auf den Weg nach Afrika, genauer gesagt nach Mocambique, um dort in einem Entwicklungshilfe-Projekt zu arbeiten. Meine Zeit in diesem wunderbaren Kontinent hat viel in meinem Leben geändert. Meine Denkweise(n), meine Auffassung von richtig und falsch, meine Ziele. Ich habe gelernt, dass nicht alle Weißen in Afrika rassistische Großgrundbesitzer sind, dass Elephantenjagd sehr wohl sinnvoll und nützlich sein kann, dass auch die lokale Bevölkerung eine Mitschuld an der Lage trägt, in der sie sich befindet, dass die schwarzen Eliten oft noch grausamer, gieriger und denunzierender sein können, als die weißen Apartheidsdiktaturen, dass –im großen und ganzen- die Dinge alle nicht so einfach und klar sind, wie ich früher immer dachte. Das eigene Leben ist schon so was von komplex, da wird ein Konflikt, ein Genozid, eine Hungersnot, ein Handelsembargo oder eben ein komplett vor sich hin siechender Kontinent nicht leichter zu verstehen sein.
Seit ich nun wieder hier in deutschen Gefilden verweile, was nun ungefähr ein gutes Jahr her ist, hat sich meine Einstellung zum Reggae und den ihn umgebenden Leute nochmals verändert. Ich verurteile sie nicht mehr so. Ich beobachte eher, wie bei dem ein oder anderen jene Prozesse einsetzen, die auch bei mir irgendwann in Gang kamen. Ich genieße ein geiles Saturday-Night-Bashment ohne mich über vorher angesprochene Szenemäkel zu ärgern, ich trinke ein Bier oder zwei ohne mich schuldig- und singe „tight pussy gal, dem ah dem ah run di place“ ohne mich unconscious zu fühlen. Ich seh einfach alles etwas lockerer.
Reggae ist immer noch ein Teil von mir, wenn er auch nicht mehr einen solch großen Platz einnimmt, wie das mal der Fall war; irgendwo muss ich ja schließlich auch noch HipHop, House und Soul unterbringen. Dennoch beeinflussen seine Riddims, seine Lyrics und ganz besonders sein Vibe immer und immer wieder meine Stimmung, meine Gedanken und meine Gefühle. Reggae ist eine ganz besondere Musikrichtung: viel vielschichtiger und verwurzelter als andere, oft kurzlebige, Stile. Reggae ist positive Musik. Aufrüttelnde Musik. Kraftvolle Musik. Eine Musik, die vereinen kann und die ein Spirit in sich trägt, von dem andere Musikrichtungen nur träumen können. Ob Roots, Lovers, Ska, Dancehall, Reggaeton, Foundation, Dub oder Ragga: ich würde sie alle auch 3007 noch liebend gerne hören. (LSch)