Neulich, als das neue Jahr anfing und ich –zu Reggaerhytmen schwingend- mit meinen Leuten die Sektkorken knallen ließ, musste ich viel über diese Musik nachdenken, die mich nun schon seit langer Zeit begleitet. Über meine Zeit mit ihr, über ihre Liebhaber und Fans, ihre Eigenarten, ihren Style, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Was macht Reggae heute aus? Wie lässt sich die Szene beschreiben? Was gefällt mir an ihr und was stört mich? |
7 Jahre lang höre ich nun Reggae. Irgendwann im Milleniumsjahr fings an, ich teilte mit einem jamaikanischen Freund von mir meinen ersten Spliff, unsere ganze Clique hing zusammen rum, wir tranken oder rauchten und hörten sehr viel und sehr laut Musik. Rock, Punk, Metal und HipHop hatten sich bis hierher in meinen Ohren verirrt, kurze Gastspiele im jugendlichen Hirn, ohne langanhaltende Dauer und Wirkung. Und dann, ganz unerwartet, kam More Fiyah. Das Capleton Album (ich dachte anfangs noch, es wäre eine Band) hörten wir rauf und runter, ich war wie angesteckt. Beenieman, Sizzla und über „No woman no cry“ hinausragende Bob Marley Platten kamen schnell dazu und sättigten meinen Durst nach mehr davon. Ich war schon immer ein lyrik-fixierten Musikhörer, das hatte sich von Slipknot’s „Wait and Bleed“ bis zu Capleton’s „JahJah City“ nicht groß geändert. Nur wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts mit dem Wort JahJah selbst anzufangen...
Dann kam „Jah World“ auf Wu-Tangs „The W“ Album und Zeilen wie „Sweat from the white man’s head, fall on our daughters, while they’re crying, giving white man head” ließen mich hellhörig werden. Da hat jemand was zu sagen. Sklaverei, Unterdrückung, Rassismus. Alles Dinge, die mich zu der Zeit brennend interessierten. Und immer wieder dieser eine, seltsame Name, der als Rettung von all diesem Übel genannt wurde: Haile Selassie I Jah RastafarI. „Wer zum Teufel ist das?“ schoß mir durch den Kopf. Ich informierte mich, las über ihn, war fasziniert von seinem Leben und seinem Werk. Und davon, dass es Menschen gibt, die ihn als Sohn Gottes preisen. Und die darüber singen. Auf eine Art und Weise, wie mich Musik vorher nie berührt hatte.
Es war mittlerweile schon 2001 geworden, ich hatte meinen Kopf irgendwo zwischen Reggae-CDs, langen Blättchen und 9.Klasse auf dem Gymnasium. Und ein riesiges, mit giftgrüner Farbe gemaltes Hanfblatt auf meinem Schul-Rucksack...
Irgendwie kam ich mit dem Macher des Reggaemagazins www.rootz.net in Kontakt, wir schrieben uns ein paar emails und trafen uns, da wir beide aus Köln kamen, in seiner damaligen Wohnung in Braunsfeld. Eine wandelnde Reggae-Enzyklopädie, Rasta-Sympathisant und Inhaber eines kleinen Grasmuseums zugleich sollte dieser Herr einiges in meinem Leben verändern. In unseren Rauchsessions erfuhr ich Hintergründe zu den mir bisher im unerklärlichen gebliebenen Phänomenen des Reggae, seine Berichte über seine Zeit in Afrika, die Gespräche mit seiner Exfrau aus Zimbabwe und die psychedelischen Wandbilder fesselten und faszinierten mich zugleich. Durch ihn kam ich praktisch direkt oder soll man lieber sagen –schonungslos frontal- in die Szene rein. Stolz wie Oskar spazierte ich mit meiner Backstage Karte über den Summerjam 2002, saß plözlich mit den Jungs von Seeed beim Karten spielen oder teilte mir mit Eek a Mouse und seinem jüngsten Sprössling eine Käseplatte. Zwischendurch dann, und ich meine hier wirklich zwischendurch, mal gerade ein Interview mit dem Fireman persöhnlich, the prophet in person, Capleton. Im Samtpyama mit Juwelenringen...War schon eine seltsame Zeit. Im Rückblick wirkt sie irgendwie surreal auf mich. Tausend neue Leute kennengelernt, alle ungefähr doppelt so alt wie ich damals, handshake hier, handshake da. Und immer Goodies von allen Seiten. Wie schnell sich die Zeiten ändern können. Frag heute mal beim Summerjam nach Goodies und du wirst wahrscheinlich von Jutta (der rothaarigen Organisationsleiterin) höchstpersönlich in den See geschmissen.
Ich schrieb zu dieser Zeit recht viel für www.rootz.net, über alles von neuen CD-Releases, die ich ab diesem Zeitpunkt immer kostenfrei und noch vor VÖ-Datum ins Haus geliefert bekam, bis zu Graffity in Köln. Auch meine damalige Freundin war recht involviert, ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir zu dritt, viert oder fünft in der „Redaktion“ rumhingen und an irgendwelchen Feinheiten der neuen Webausgabe gefeilt haben. Musikalisch wandte ich mich immer mehr dem Rootsreggae zu, conscious Lyrics wurden mir immer wichtiger. Ich fing an, mir Dreads wachsen zu lassen. Irgendwann lebte ich als Reggae-Rasta-Rebel mitten in Babylon. So dachte ich jedenfalls. Ändert das System! Wacht auf! Babylon muss fallen! Das ging mir durch den Kopf und das empfand ich auch als wahr. „Rastaman ah taking over and we got nothing to fear” tönte es aus meinen Ohrhörern, das Hanfblatt auf meinem Rucksack war einem Twelve Tribe Symbol gewichen, meine Locks wuchsen und meine Lebensweise änderte sich. Ich trank nicht mehr, ich aß kein Fleisch mehr, rauchte keine Zigaretten. Ich wollte „I-tal“ leben und mich „irie“ fühlen.
Desto mehr Konzerte und Festivals ich jedoch besuchte, desto mehr Interviews ich führte, desto öfter ich bei irgendwelchen Dances und Soundclashs feierte, desto mehr fühlte ich mich allerdings auch dort irgendwie fremd. Von Jahr zu Jahr erschien mir alles kommerzialisierter, massentauglicher, oberflächlicher, sinnloser. Ich weiss nicht recht, wie ich es beschreiben soll, aber obwohl Reggae zu dieser Zeit sehr wichtig für mich war, in einer gewissen Weise meine Lebensauffassung wiederspiegelte und ich auch aktiv in der Reggaeszene engagiert war, so sah ich mich selbst doch nie als ein Teil eben dieser Szene. Ich glaube, ich finde eh nichts schlimmer, als die Inkarnation eines Klischees zu sein und wenn man dann am Fühlinger See von 30.000 Dreadlocks umrundet ist, die alle Haile Selassie I Anhänger an ihre kratzigen Jutesack-Hemden geknüpft haben und mit viel zu roten Augen an viel zu großen Joints rauchen, dann kommt man sich manchmal vor, genau das zu sein. Es wird einem praktisch anhand all der anderen „Rastas“ bewusst, was eigentlich mit einem selber geht. Die meisten entsprechen tatsächlich diesem Stereotyp des kiffenden, seine Hand zum Peacezeichen formenden Reggaefans, der das ganze dreckig-schlechte System um ihn herum verdammt und sich dann doch Sonntag Abend bequem vom Papa abholen lässt, der von Consciousness, Righteousness und Pureness redet, aber gleichzeitig einen Mann als Messias huldigt, der sich während einer der größten Hungersnöte der Geschichte lieber einen komplett mit Elfenbein ausgestatteten VW bestellt und seine Löwen verwöhnt, als sich um sein Volk zu kümmern. So wollte ich nie sein. Das schreckte mich ab und nervte mich.
Ich begann, nach meiner eigenen Philosophy zu leben. Immer öfter wurden mir all die Dinge bewusst, die sonst nur ein Aussenstehender so wahrnehmen würde. Wie unglaublich verbreitet gewaltverherrlichende Homophobie in dieser an Kultur interessierten, eigentlich doch friedlichen und toleranten Szene ist, ist unglaublich. Das irgendwelche durchgeknallten jamaikanischen Badmen ihr Ego aufpolieren müssen um auch ja 110% hetero zu wirken, ist die eine Sache. Das wir, das deutsche/westliche, aufgeklärte und erwachsene Publikum solche Stellungnahmen oder Aufrufe durchgehen lassen oder sie teilweise sogar bekräftigen, ist eine ganz andere. Ich persönlich –im Gegensatz zu einem Teil unserer Redaktion- finde es daher auch völlig in Ordnung, wenn sich homosexuelle Interessengruppen dagegen wehren und die Auftritte oder Touren einzelner Künstler zu verhindern suchen. Ob nun jemand „Verbrennt die Juden“, „Verbennt die Neger“ oder „Verbrennt die Schwulen“ sagt, macht doch keinen Unterschied. Diese Leute gehören nicht nur in ihren Auftritten eingeschränkt, sondern bestraft. Und wenn jetzt wieder alle sagen, dass „bun dem“ oder „fiyah pon dem“ eine symbolische oder metaphorische Bedeutung haben und nicht wörtlich zu nehmen sind, dann kann ich nur entgegnen, dass es beispielsweise in Jamaica sehr wohl eine Vielzahl an Vorfällen gibt, wo eben diese Symbolik dann doch recht real geworden ist. Brian Williamson wird’s bestätigen können.
Ein weiteres Problem der Reggaeszene ist dieses „wir sind bessere Menschen“-Feeling, was irgendwie von vielen Leuten ausgestrahlt wird. Natürlich sind Reggaefans im Schnitt mit Sicherheit umweltbewusster, offener gegenüber Ausländern oder religiösen/ethnischen Minderheiten, vielleicht sogar etwas hilfsbewusster und sozial engagierter. Dennoch denken auch wir alle nur an uns, wenn der Spfliff die Runde macht und noch mindestens 3 Leute vor uns dran sind, dennoch diskriminieren auch wir im großen Stil (siehe oben), dennoch gibt’s auch beim Reggaefestival Dosenbier, Plastikverpackungen und Fertigessen. Jeder Schritt, der in Richtung „bessere Welt“ gemacht wird, ist lobenswert und zu unterstützen. Aber Scheinheiligkeit und Selbstverliebtheit haben noch niemanden auf dem Weg dorthin geholfen.
Ich selbst machte mich 2005 auf den Weg nach Afrika, genauer gesagt nach Mocambique, um dort in einem Entwicklungshilfe-Projekt zu arbeiten. Meine Zeit in diesem wunderbaren Kontinent hat viel in meinem Leben geändert. Meine Denkweise(n), meine Auffassung von richtig und falsch, meine Ziele. Ich habe gelernt, dass nicht alle Weißen in Afrika rassistische Großgrundbesitzer sind, dass Elephantenjagd sehr wohl sinnvoll und nützlich sein kann, dass auch die lokale Bevölkerung eine Mitschuld an der Lage trägt, in der sie sich befindet, dass die schwarzen Eliten oft noch grausamer, gieriger und denunzierender sein können, als die weißen Apartheidsdiktaturen, dass –im großen und ganzen- die Dinge alle nicht so einfach und klar sind, wie ich früher immer dachte. Das eigene Leben ist schon so was von komplex, da wird ein Konflikt, ein Genozid, eine Hungersnot, ein Handelsembargo oder eben ein komplett vor sich hin siechender Kontinent nicht leichter zu verstehen sein.
Seit ich nun wieder hier in deutschen Gefilden verweile, was nun ungefähr ein gutes Jahr her ist, hat sich meine Einstellung zum Reggae und den ihn umgebenden Leute nochmals verändert. Ich verurteile sie nicht mehr so. Ich beobachte eher, wie bei dem ein oder anderen jene Prozesse einsetzen, die auch bei mir irgendwann in Gang kamen. Ich genieße ein geiles Saturday-Night-Bashment ohne mich über vorher angesprochene Szenemäkel zu ärgern, ich trinke ein Bier oder zwei ohne mich schuldig- und singe „tight pussy gal, dem ah dem ah run di place“ ohne mich unconscious zu fühlen. Ich seh einfach alles etwas lockerer.
Reggae ist immer noch ein Teil von mir, wenn er auch nicht mehr einen solch großen Platz einnimmt, wie das mal der Fall war; irgendwo muss ich ja schließlich auch noch HipHop, House und Soul unterbringen. Dennoch beeinflussen seine Riddims, seine Lyrics und ganz besonders sein Vibe immer und immer wieder meine Stimmung, meine Gedanken und meine Gefühle. Reggae ist eine ganz besondere Musikrichtung: viel vielschichtiger und verwurzelter als andere, oft kurzlebige, Stile. Reggae ist positive Musik. Aufrüttelnde Musik. Kraftvolle Musik. Eine Musik, die vereinen kann und die ein Spirit in sich trägt, von dem andere Musikrichtungen nur träumen können. Ob Roots, Lovers, Ska, Dancehall, Reggaeton, Foundation, Dub oder Ragga: ich würde sie alle auch 3007 noch liebend gerne hören. (LSch)